Kritik und Weiterentwicklung des Morbi-RSA

Leipzig, 03. Mai 2017 – Die gesetzlichen Krankenkassen sind auf einen fairen und transparenten Finanzausgleich angewiesen. Aufgrund unterschiedlicher Erkrankungshäufigkeiten und -risiken innerhalb der Versichertenschaft variieren auch die krankheitsbedingten Ausgaben der Krankenkassen. Der seit 2009 eingesetzte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) soll diese ungleiche Kostenverteilung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgleichen. Doch es gibt Schwachstellen. Das WIG2 Institut hat nun ein Diskussionspapier zur Weiterentwicklung der Morbiditätsparameter im Morbi-RSA entwickelt, welches die Kritikpunkte am derzeitigen GKV-Finanzausgleichsystem erläutert und diskutiert.

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Der Morbi-RSA – Finanzausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung

Der so genannte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA, dient dem Ausgleich von Kostenrisiken zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) herrscht eine vielschichtige Versichertenstruktur vor, beispielsweise in Bezug auf das Alter sowie das Erkrankungsrisiko. Aufgrund vorteilhafter oder unvorteilhafter Versichertenschaften können den einzelnen, gesetzlichen Krankenkassen so niedrigere oder höhere Kosten für Leistungsausgaben entstehen. Aus diesem Kosten-Ungleichgewicht können unter anderem Anreize zur Risikoselektion, also der aktiven Werbung von Versicherten mit niedrigen Erkrankungsrisiken, resultieren. Der 2009 reformierte Morbi-RSA soll derartige finanzielle Ungerechtigkeiten zwischen den einzelnen Krankenkassen ausgleichen. Hierfür wird nach einem gesetzlich geregelten Verfahren eine Zuweisung von Geldern aus dem Gesundheitsfonds vorgenommen. Krankenkassen mit höheren Leistungsausgaben erhalten demnach höhere Zuweisungen, um ihren versichertenstrukturellen Nachteil ausgleichen zu können.

7 Thesen und Vorschläge des WIG2 Instituts zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA

„Das aktuelle Verfahren des Morbi-RSA ist nicht unumstritten“, konstatiert Dr. Dennis Häckl, Institutsleiter und Geschäftsführer des WIG2 Instituts: „Die Integration der Morbidität in den Risikostrukturausgleich im Jahr 2009 ist zwar generell positiv zu bewerten, dennoch haben wir einen hohen Optimierungsbedarf festgestellt, beispielsweise bezüglich der Systematik der Krankheitsauswahl oder der berücksichtigten Risikofaktoren.“

Die Kritikpunkte am derzeitigen Morbi-RSA hat das WIG2 Institut im Rahmen eines Diskussionspapiers in insgesamt sieben Thesen zusammengefasst. Dabei wurden die Thesen jeweils mit wissenschaftlicher Evidenz sowie internationalen Entwicklungen untermauert.

 

These 1: Zur Bewertung des Morbi-RSA und möglichen Anpassungen sollten qualitative Kriterien mindestens ebenso hoch gewichtet werden wie statistische Gütemaße.

Der Morbi-RSA dient der Sicherstellung eines finanziell fairen Wettbewerbs innerhalb der GKV. Infolgedessen kommt dem Ziel, Risikoselektion zu vermeiden, ein besonders hoher Stellenwert zu. Neben rein quantitativen Faktoren plädiert das WIG2 Institut auch für die Einbeziehung qualitativer Kriterien in den Morbi-RSA. Neben der Prognosegüte sowie der Zielgenauigkeit von Zuweisungen sollten auch die Manipulationsresistenz, Versorgungsneutralität, Anreize für Wirtschaftlichkeit und Qualität in der Versorgung, die Durchführbarkeit sowie die Verfahrenstransparenz und Akzeptanz für eine Integration in den Morbi-RSA diskutiert werden.

 

These 2: Analysen und Anpassungen des Morbi-RSA sollten auch jenseits der bestehenden Systematik ermöglicht und umgesetzt werden; denn diese hat Schwachstellen.

Der 2009 reformierte Morbi-RSA soll primär Anreize zur Risikoselektion innerhalb der GKV einschränken. Das WIG2 Institut kommt zu dem Schluss, dass weiterhin systematische Schwächen im Verfahren verankert sind. Diese wiederum begünstigen Anreize zur Risikoselektion, sodass sie im aktuellen Morbi-RSA korrigiert werden sollten.

 

These 3: Das derzeitige Verfahren der Krankheitsauswahl wirkt sich auf den Krankenkassenwettbewerb aus.

Ein zentraler methodischer Aspekt des derzeitigen Morbi-RSA-Verfahrens stellt die Krankheitsauswahl dar. Folglich werden im GKV-Finanzausgleich nicht alle Krankheiten berücksichtigt. Stattdessen erfolgt jährlich eine Festlegung von 80 Erkrankungen, die im Rahmen des Morbi-RSA berücksichtigt werden. Diese Begrenzung selbst sowie der Auswahlprozess werden vom WIG2 Institut infrage gestellt. Beispielsweise werden Wechselwirkungen bei Multimorbiditäten, wie sie in unserer alternden Gesellschaft immer häufiger auftreten, nicht in hinreichendem Umfang berücksichtigt. Im Rahmen des Diskussionspapiers werden zahlreiche Ansatzpunkte diskutiert, um das methodische Verfahren zu verbessern.

 

These 4: Ambulante Diagnosen sind nicht das geeignetste Instrument zur Erfassung von Morbidität.

Die namensgebende Morbidität spielt im aktuellen Verfahren des Morbi-RSA eine tragende Rolle. Die Erfassung dieser Erkrankungen stellt indes einen weiteren identifizierten Kritikpunkt dar. In Deutschland erfolgt diese Erfassung maßgeblich über stationäre und ambulante Diagnosen. Wie das WIG2 Institut festgestellt hat und die aktuelle Debatte um Manipulationen verdeutlicht, sollte die Nutzung ambulanter Daten vor allem im internationalen Vergleich infrage gestellt werden. Stattdessen gibt es alternative Verfahren, deren Einbezug in den Morbi-RSA diskutiert werden sollte. Hierzu zählen beispielsweise stationäre Versorgungsdaten sowie Apothekendaten.

 

These 5: Es sollten Anpassungen vorgenommen werden, die die Manipulationsanfälligkeit des Verfahrens verringern.

Das aktuelle Verfahren des Morbi-RSA ist manipulationsanfällig – vor allem von Seite der Krankenkassen. Eine Einflussnahme auf das Codierverhalten von Leistungserbringern zur Erhöhung der Zuweisungen aus dem RSA stellt nur ein Anreiz zur erfolgsversprechenden Manipulation dar. Auch das Nichtmelden von Daten oder die Gewichtung der Prävalenzen eröffnen je nach Versichertenstruktur erheblichen finanziellen Spielraum für Krankenkassen. Diese Manipulationsanfälligkeit des derzeitigen Ausgleichsystems sollte behoben werden.

 

These 6: Die Hierarchisierung sollte differenzierter nach weiteren klinischen Gesichtspunkten ausgestaltet werden.

Die etwaigen Begleiterkrankungen von Versicherten werden derzeit über die Hierarchisierung von so genannten Klassifikationsgruppen berücksichtigt. Die Einteilung in diese Gruppen erfolgt aktuell über die erwarteten Kosten nach ein Zuschlags- oder Zellenansatz. Das bedeutet, dass Versicherte genau einer Zelle mit einem festen Beitrag zugeordnet wird oder auf Basis einer Grundpauschale individuell weitere Faktoren im Risikostrukturausgleich berücksichtigt werden. Indes werden in der Literatur weitere Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Begleiterkrankungen diskutiert, die eine authentischere Abbildung der realen Morbiditätssituation zulassen.

 

These 7: Es existieren bekannte kostenrisikorelevante Faktoren, die im aktuellen Verfahren keine Berücksichtigung finden.

Neben den berücksichtigten Daten und Faktoren im deutschen Morbi-RSA existieren in der Theorie sowie im internationalen Vergleich noch weitere Einflussfaktoren, die aktuell keine Verwendung finden. Das WIG2 Institut identifiziert vor allem den sozioökonomischen Status, die Regionalität, Selbstauskünfte zum Gesundheitsstatus sowie etwaige Zuzahlungsbefreiungen als Einflussfaktoren, deren Integra