Von wegen „FKG Adé“ – die Reise geht jetzt erst richtig los!

Fachvertreter:innen aus Wissenschaft, Politik und Praxis trafen sich am 7. und 8. Oktober 2020 zum zweiten RSA-Fachkongress in Leipzig und erstmals auch virtuell.

Das „Faire Kassenwettbewerb Gesetz“ (FKG) in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) trat in diesem Jahr am 1. April in Kraft. Die Ausarbeitung der darin verankerten, umfangreichen Reform des Risikostrukturausgleichs (RSA) spielte bereits während des ersten RSA-Fachkongresses im vergangenen Jahr eine zentrale Rolle. Nun, ein halbes Jahr nach Inkrafttreten, wollten wir natürlich wissen, inwieweit die Reformbausteine schon in die Praxis überführt werden konnten und ob bereits erste Effekte zu erkennen sind. Wo wird die Reise hingehen? Wie wirkt die neue Unbekannte  COVID19 auf das Ausgleichssystem? Fragen, denen wir in zwei diskussions- und erkenntnisreichen Kongresstagen auf den Grund gegangen sind – vor Ort im Ring-Café in Leipzig und erstmals auch parallel im Livestream.

Nach einer herzlichen Begrüßung durch die Moderatoren Dr. Dennis Häckl, Geschäftsführer am WIG2 Institut, auf der Bühne und durch Martin Blaschka, dem Leiter Innovationsnetzwerk und Veranstaltungen am WIG2 Institut, im Livestream, begann der erste Kongresstag mit einem Impulsvortrag von Stefan Gründer, Leiter des Referats 222 Risikostrukturausgleich am Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Er stellte den aktuellen Stand des Morbi-RSA und die Erwartungen des Gesetzgebers an dessen Reform durch das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) vor.

Welche Vor- und Nachteile die Einführung von Kodierrichtlinien auf die Dokumentation im RSA hat und wie wichtig ein guter IT-Zertifizierungs-Workflow für die komfortable und rechtssichere Implementierung der Richtlinien in z. B. die Praxissoftware eines niedergelassenen Arztes ist, erläuterte Frau Prof. Dr. Saskia Drösler, Hochschule Niederrhein und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des RSA am Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS), direkt im Anschluss.

Inhaltlich voll und ganz im Kongressthema angekommen, ging es dann im ersten von insgesamt vier Themenblöcken sogleich in die fachliche Tiefe. Benjamin Berndt, Projektleiter für Gesundheitspolitik und Beratung am WIG2 Institut, stellte die Ergebnisse des Folgegutachtens zu Effekten durch Auslandsversicherte auf die GKV vor. Das Gutachten wurde unter federführender Mitwirkung durch das WIG2 Institut im Auftrag des BAS erstellt. Er schilderte die Auseinandersetzung mit der Frage, welches der im Erstgutachten vorgeschlagenen Modelle zur Ermittlung der landesspezifischen Zuweisungen für Auslandsversicherte am besten geeignet ist. Trotz der Tatsache, dass das empfohlene Modell  eine Abkehr vom sonst im Morbi-RSA üblicherweise praktizierten Für-Prinzip bedeuten würde, empfiehlt das Gutachten die Ermittlung landesspezifischer Zuweisungen auf Basis der beglichenen Rechnungen der DVKA im Ausgleichjahr. Erfreulich war die Erkenntnis, dass diese Empfehlung auch durch die anwesenden Teilnehmer getragen wurde.

Der zweite Themenblock bot Prof. Dr. Ulrich, Lehrstuhlinhaber an der Universität Bayreuth und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim BAS, Raum über die Weiterentwicklungsperspektiven des Risikostrukturausgleichs aus seiner Sicht als Beiratsmitglied zu sprechen. Nachdem er das FKG als weitreichende, überzeugende und zielführende Reform bezeichnete, betonte er jedoch, dass er sehr gespannt sei, wie sich das lernende System des RSA nun weiterentwickeln würde und gab nicht wenige Impulse an welchen Stellen noch gearbeitet werden müsse – sei es die Verhinderung von Manipulation, die Einbindung von Kosten für Einmaltherapien, die bessere Altersdifferenzierung und ein stärkerer Fokus auf Versichertenfaktoren. 

Mit weniger Fürsprache für die praktische Umsetzung des FKG begann Prof. Dr. Jürgen Wasem seinen Beitrag. Als ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats kritisierte er insbesondere das Instrument der sogenannten Manipulationsbremse, das den Ausschlusss von Krankheiten mit dynamischer Kodierentwicklung vorsieht, obwohl dies seitens des Beirats nicht geprüft wurde. Nach dieser wichtigen Anmerkung folgte ein erkenntnisreicher Ausblick über verschiedene Abbildungsmöglichkeiten für innovative, zugleich aber hochpreisige Arzneimittel. Wasem erläuterte, dass der RSA auf chronische Erkrankungen mit kontinuierlichem Therapiebedarf ausgerichtet ist. Die Behandlung von Akuterkrankungen mit Hilfe von Einmaltherapien und den damit verbundenen, zumeist sehr preisintensiven Arzneimitteln, stellt das Finanzsystem der GKV hingegen vor große finanzielle Herausforderungen. Anschließend zeigte er vier denkbare Lösungsansätze auf. Für zwei dieser Vorschläge hat die praktische Umsetzung mit dem FKG bereits begonnen. Dabei handelt es sich um die stärker kostengetriebene Differenzierung von Arzneimittelzuschlagsgruppen und die Einführung eines („zeitgleichen“) Risikopools.

Dr. Thomas Höpfner, zweiter Geschäftsführer am WIG2 Institut, brachte die Expert:innen des ersten Kongresstages am späten Nachmittag noch einmal zu einer Diskussionsrunde zusammen. Neben viel Zuspruch für Ulrichs Apell, dass der Morbi-RSA als lernendes System noch einiges an Arbeit für alle Akteure bereithält, wurde die Manipulationsbremse zum spannenden Streitpunkt. Auf der einen Seite ist sie nur ein Bestandteil eines ganzen Maßnahmenpakets, so Frau Prof. Dr. Saskia Drösler. Doch auf der anderen Seite, entgegnete Prof. Dr. Jürgen Wasem, ist sie ein mächtiges Werkzeug – so mächtig, dass man ihre Wirksamkeit vor dem Einsatz hätte intensiver prüfen müssen. Eine spannende Diskussion mit offenem Ende. Denn erst, wenn uns konkrete Daten vorliegen und diese evaluiert wurden, können wir mehr sagen. Bis dahin, meinte Ulrich, fischen wir im Trüben!

Zum Abschluss des ersten RSA-Fachkongresstages bot das gemeinsame Abendessen einen entspannten Rahmen zum gemeinsamen Austausch und Netzwerken. Wie während des gesamten Kongresses sorgten bei der Abendveranstaltung umfangreiche Hygienemaßnahmen für einen sicheren Ausklang.

Am zweiten Tag erweiterten wir unsere Sicht auf den Risikostrukturausgleich um internationale Perspektiven.

Den Anfang gebührte Prof. Dr. Ab Klink, Vorstand Coöperatie VGZ und ehemaliger niederländischer Gesundheitsminister. Die Quintessenz seiner Erfahrungen: Die Qualität der Behandlung steigt, wenn die Quantität der Behandlung sinkt! Diesem Leitgedanken folgend, zeigte er anhand praxisnaher Beispiele auf, wie man in den Niederlanden versucht, Anreize zu schaffen, um die Überversorgung der Versicherten zu reduzieren. Er sprach sich dabei mehrfach dafür aus, diesem Problem auch in Deutschland zu begegnen. Den zweiten Impulsvortrag an diesem Morgen hielt die Leiterin des Referats 316 Risikostrukturausgleich am BAS, Dr. Sylvia Demme, zugeschaltet via Live-Stream. Sie referierte zum Stand der Weiterentwicklung des RSA und zur aktuellen sowie zukünftigen Umsetzung des FKG. Nachdem im Rahmen dieses Kongresses schon viele Anpassungs- und Verbesserungsvorschläge diskutiert wurden, wies sie noch einmal auf die enorme Dimension dieser Reform hin. Die Ausgleichsjahre 2020 und 2021 dienen erst einmal der konzentrierten Umsetzung des FKG. Damit sei noch nicht die richtige Zeit für neue Forderungen gekommen. 

Welche Rolle die Coronapandemie in den Ausgleichjahren einnimmt und wie es weiter gehen könnte, stand im vorletzten Themenblock im Mittelpunkt.

Prof. Dr. Richard van Kleef, tätig an der Erasmus University Rotterdam, sprach über die Auswirkungen von COVID19 auf den Risikoausgleich in den Niederlanden. Er zog mögliche Parallelen zu Deutschland und erläuterte drei Optionen, wie die Über- und Unterdeckung als Folge von Risikoausgleichsmodellen reduziert werden können. Kleef entließ das Auditorium mit dem Gedanken „Die Verminderung der Überkompensation gesunder Menschen und der Unterkompensation chronisch Kranker ist entscheidend für das Funktionieren der Gesundheitssysteme!“. Zudem wies er darauf hin, dass Versicherer, die auf die Präferenzen chronisch Erkrankter eingehen, belohnt und nicht bestraft werden sollten!

Für mögliche Folgen auf die Zielgenauigkeit des RSA und den Wettbewerb zwischen den Kassen, hielt Dr. Dennis Häckel in seinem Anschlussvortrag fünf Thesen bereit. Es sei für das Ausgleichsjahr 2021 u. a. davon auszugehen, dass eine Verringerung der allgemeinen Zielgenauigkeit sehr wahrscheinlich ist. Außerdem droht Krankenkassen mit überdurchschnittlicher Morbidität durch die verschlechterte Abbildung der Krankheitslast 2021 ein Wettbewerbsnachteil.

Mit diesen Beiträgen aus Richtung Wissenschaft wurde das Wort in der darauffolgenden Expertenrunde an die Praktiker und damit an die direkt von der Reform betroffenen Akteure übergeben.

Ein Panel aus Vertretern der vier gesetzlichen Krankenkassenverbände mit Dr. Schepp (BKK Dachverband e. V.), Dr. Friedrich (AOK- Bundesverband), Herr Gabriel (vdek - Verband der Ersatzkassen) und Herr Martens (IKK e. V.) diskutierte die Auswirkungen des FKG und der Corona-Pandemie in Deutschland. Obwohl die Herausforderungen, vor denen die verschiedenen Kassen und Kassenarten stehen, jeweils sehr unterschiedlich sind, waren sich die Vertreter grundsätzlich einig, dass das FKG wichtige Komponenten für einen faireren Finanzausgleich in das gesetzliche Krankenversicherungssystem bringt. Fraglich bleibt jedoch, inwieweit COVID19 die Morbidität verändert und zu Verzerrungen bei der Identifikation von Manipulation führt. Genaues dazu kann lässt sich aber erst sagen, wenn ausreichend Daten zur Verfügung stehen und evaluiert wurden – wobei man es durchaus begrüßen würde, wenn diese zumindest etwas eher als es der Abrechnungszeitraum vorsieht, geprüft und standardisiert verfügbar wären.

Nach einer verdienten Mittagspause begann der abschließende Themenblock. Das Publikum im Saal und virtuell hatte nun die Möglichkeit noch einmal Fragen an die Referent:innen des zweiten Fachkongresstages zu stellen.

Zum Abschluss des zweiten RSA-Fachkongresses betrat dann noch Überraschungsgast Maria Klein-Schmeink, Abgeordnete im Deutschen Bundestag und Gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen die virtuelle Bühne. Sie warb für gute Zusammenarbeit zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen und der Politik. Die Versorgungsgüte der Versicherten solle dabei im Fokus stehen, jedoch müssen sich Qualität und Transparenz auch für die GKV lohnen. Fehlanreize müssen auch weiterhin minimiert werden.

Wir sind gespannt, an welcher Station der Reise wir im nächsten Jahr angekommen sein werden und freuen uns bereits jetzt auf den dritten RSA-Fachkongress 2021.

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