Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung i.S.d. §§ 99 ff. SGB V

Hintergrund

Die deutsche Gesundheitsinfrastruktur ist regional heterogen. Das ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass in verschiedenen Regionen Deutschlands ungleiche Sozial- und Morbiditätsstrukturen vorliegen, wodurch wiederum ein unterschiedlicher Bedarf an Gesundheitsleistungen entsteht. Im Rahmen einer Bedarfsplanung muss daher gewährleistet sein, dass alle Menschen flächendeckend eine bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgung in Anspruch nehmen können. An den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) wurde mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz die Aufgabe herangetragen, diese regionale Bedarfsplanung zu überprüfen und weiterzuentwickeln.

Zur Bewertung und Weiterentwicklung der Bedarfsplanung hat der G-BA ein fachübergreifendes sowie wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben. Das im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung beauftragte Konsortium umfasst neben dem WIG2 Institut die Ludwig-Maximilians-Universität München (Konsortialführer), die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, die Universitätsmedizin Greifswald, das Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik München sowie die 37 Grad Analyse und Beratung GmbH. Von Seiten des WIG2 waren Ines Weinhold, Leiterin Gesundheitsökonomie, und Danny Wende, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, für die Gutachtenteile zur Bewertung des Zugangs zur ambulanten ärztlichen Versorgung und der bisherigen Instrumente der Bedarfsplanung sowie zur Neustrukturierung der räumlichen Verteilung von Versorgungsangeboten zuständig.

Informationen im Überblick

Titel: Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung i.S.d. §§ 99 ff. SGB V zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung (WIG2: Teil C)

Motivation: Ziel des Gutachtens ist es, die Bedarfsplanung unter Einbezug umfassender und aktueller Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Praxis zu bewerten. In Teil C werden vor dem Hintergrund des Anspruchs, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, und der Herausforderung sehr heterogener Siedlungs- und Funktionalraumstrukturen verschiedene Konzepte zur Planung der räumlichen Verteilung von Arztstandorten erarbeitet und bewertet.

Methodisches Vorgehen: Routinedatenanalyse, Patientenbefragung, Experteninterviews, Literaturanalyse

Auftraggeber: Gemeinsamer Bundesausschuss (Unterausschuss Bedarfsplanung)

Laufzeit: 02/2017 – 07/2018

Zusammenfassung Teil C

München, Leipzig, Bonn, Greifswald und Köln, Juli 2018

Räumliche Inanspruchnahme ambulanter Versorgung aus Patientenperspektive

Verschiedene Befragungen unter Patienten belegen eine insgesamt gute Erreichbarkeit haus- und fachärztlicher Versorgung, die für Bevölkerungsteile von nahezu 99 Prozent innerhalb von 15 bzw. 30 Minuten erreichbar ist. In ländlichen Regionen sind die zurückgelegten Wegstrecken zum Teil allerdings deutlich länger, insbesondere bei der Inanspruchnahme fachärztlicher Versorgung. In Hinblick auf die Verkehrsmittel, die für einen Arztbesuch genutzt werden, bevorzugen 61 Prozent der Befragten das Auto. In kreisfreien Großstädten wird der Weg zum Arzt oftmals aber auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß zurückgelegt. Mittels Regressionsanalysen wurden aus der subjektiven Einschätzung bezüglich der zurückgelegten Wegzeiten aus Perspektive der Patienten kritische Distanz-Akzeptanzschwellen in Abhängigkeit potenzieller Einflussfaktoren ermittelt. Diese liegen im hausärztlichen Bereich bei ca. 24 Minuten und für Fachärzte bei 30 bis 40 Minuten Wegzeit, wobei insbesondere die bereits zurückgelegte Distanz, das Alter und die Wohnortgröße der Befragten die Akzeptanz eines zusätzlichen Kilometers beeinflussen.

Analyse und Diskussion räumlicher Mitversorgung

In der aktuellen Bedarfsplanung findet eine an der Berufspendlerquote orientierte Berücksichtigung der räumlichen Mitversorgung auf Ebene der allgemeinen fachärztlichen Versorgung statt. Teil C des Gesamtgutachtens zeigt, dass diese Methode jedoch zu ungenau ist. Zum einen können die Kreistypen nicht trennscharf zwischen den tatsächlichen Pendlerquoten differenzieren, zum anderen entsprechen die daraus abgeleiteten Mitversorgungstypen nicht den realen Beziehungen. Zur Analyse der Ursachen der räumlichen Mitversorgung wurden potenzielle Einflussfaktoren ermittelt und in einem Regressionsmodell überprüft. Im Vergleich zur aktuellen Verfahrensweise steigt die Vorhersagegüte für den Bereich der allgemeinen fachärztlichen Versorgung von 21 Prozent auf etwa 50 Prozent an. Als größter Einflussfaktor stellte sich die räumliche Lage selbst heraus. Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse die Notwendigkeit, Mitversorgung stets im Zusammenhang mit dem Mitversorgungspotenzial der umgebenden Regionen und damit unter den tatsächlichen regionalen Gegebenheiten zu betrachten.

Reformbedarf der räumlichen Verteilung des vertragsärztlichen Angebots

  • Ein Großteil der beteiligten Akteure bewertet die nach Neuordnung definierten Planungsräume je nach Versorgungsebene als (eingeschränkt) zweckmäßig. Die Anpassungsmöglichkeit an regionale Besonderheiten wird als wichtig betont.
  • Vor dem Hintergrund ausreichend großer Einzugsbereiche für eine tragfähige Praxis und zentraler, gut angebundener Standorte ist eine flächenmäßige Differenzierung nach Spezialisierungsgrad sinnvoll und notwendig. Hinsichtlich des Zieles, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, sollten abweichende Gebietsstrukturierungen zwar unter der Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten und Expertise, jedoch gleichzeitig utner der Maßgabe einer konsentierten Vorgehensweise und einheitlicher Kriterien vorgenommen werden.
  • Obwohl die ambulante Versorgung durchschnittlich gut erreichbar ist, treten insbesondere zwischen ländlichen und städtischen Regionen Unterschiede auf. Außerdem weisen einzelne Arztgruppen wie beispielsweise Kinderpsychiater und Strahlentherapeuten erhebliche Wegzeiten auf. Eine Berücksichtigung von Mindesterreichbarkeiten innerhalb von Planungsräumen, ausgehend vom Bevölkerungswohnort als zusätzliches Steuerungsinstrument, wäre notwendig und sinnvoll.
  • Die wesentlichen Einflussgrößen regionaler Mitversorgung liegen in den strukturellen Charakteristika der Räume selbst, wobei diese in Form von Anpassungsfaktoren oder eines Gravitationsansatzes einkalkuliert werden können. Es ist außerdem zwischen erwünschten und unerwünschten Faktoren zu unterscheiden, was sich wiederum in einer räumlichen Planungsmethodik widerspiegeln sollte.

 

Reformoptionen der räumlichen Verteilung des vertragsärztlichen Angebots

Konzept 1 stellt die konservativste Option dar und knüpft damit eng an den Status quo an. Die aktuelle räumliche Zuordnung der Versorgungsebenen wird dabei unter Berücksichtigung einheitlicher Kriterien zur Erreichbarkeit und Tragfähigkeit bewertet, die aus den Richtwerten des Zentrale-Orte-Konzepts gemäß dem BBSR ausgerichtet sind. Konzept 2 beschreibt eine Methode zur Raumclusterung nach Versorgungsgesichtspunkten, anhand derer möglichst homogene Versorgungsräume zugeschnitten werden können. Dadurch ist es beispielsweise möglich, große Raumstrukturen in homogene Teilräume zu zerlegen. Als Zieldimensionen, an denen die Zuschnitte optimiert werden, wurden die Erreichbarkeit der Praxisstandorte, der Versorgungsgrad und die Pendlerverflechtungen verwendet. Die Clusterbildung erfolgt über einen (teil-)überwachten Lernalgorithmus mittels k-mean Clusterverfahren. Konzepte 3 bis 5 basieren auf einem Gravitationsmodell, bei dem schrittweise die feste Zuordnung der Anzahl von Leistungserbringern und der Anzahl der Bevölkerung in einer festgelegten Raumdefinition abgelöst wird. Das Modell basiert auf der Überlegung, dass sich Ärzte und Patienten anziehen, während die räumliche Distanz, die es zu überbücken gilt, abstoßend wirkt. An die Stelle einer hochaggregierten Durchschnittsrelation für das Arzt-Einwohner-Verhältnis auf Mittelbereichs- oder Kreisebene tritt eine gravitationsbasierte Ist-Relation, die innerhalb einer kleinräumigen Auflösung auf Basis der Erreichbarkeiten zwischen Arzt- und Patientenstandorten berechnet wird. Dabei werden die Kapazitäten der Leistungserbringer in Abhängigkeit ihrer Distanz zu den umliegenden Patientenstandorten in einem maximalen Einzugsbereich auf die Bevölkerung verteilt. Die so gebildeten Ist-Relationen werden zur Bewertung der Versorgungsgrade herangezogen.

Die Umsetzung erfordert einige Entscheidungen bezüglich der Modellparameter, die begründet und transparent festgelegt werden sollten.

Fazit

Insgesamt bevorzugen die Gutachter die Verwendung eines Gravitationsmodells zur Adressierung des Reformbedarfs, da mit diesem die Einwohner-Arzt-Relation auf einer sehr kleinräumigen Regionalebene dargestellt werden kann und zudem die Analyse feiner Unterschiede im Zugang möglich ist. Des Weiteren bilden gravitationsbasierte Ansätze die räumliche Entscheidungsfindung der Patienten bei der Inanspruchnahme realistischer ab als Raumtypisierungen und Raumabgrenzungen. Um die kleinräumigen Analyseergebnisse und die daraus erwachsenen Chancen des Gravitationsmodells in Hinblick auf die Ziele einer flächendeckenden und wohnortnahen Versorgungsplanung verwirklichen zu können, wird das Vornehmen einer Feinsteuerung der Praxisstandorte innerhalb der Planungsräume vorgeschlagen. Im Allgemeinen sind steuernde Eingriffe in die Standortwahl innerhalb von Planungsräumen nach geltender Rechtslage zwar nicht vorgesehen, die Gutachter halten eine solche Steuerung allerdings für unerlässlich.

Der Beschluss zur Abnahme des Gutachtens sowie ein Download-Link zum vollständigen Endbericht sind hier auf der Webseite des G-BA abrufbar. Inhaltliche Rückfragen oder Presseanfragen richten Sie bitte direkt an den Gemeinsamen Bundesausschuss oder den Konsortialführer LMU München, Fachbereich Health Services Management.