Die GKV im Reformjahr: fair finanziert, nachhaltig stabilisiert? Akteure aus Wissenschaft, Politik und Praxis diskutieren zum 5. RSA-Fachkongress
Die große Reform des Risikostrukturausgleichs (RSA) im Deutschen Gesundheitssystem ist seit 2020 im vollen Gange – sowohl die nach und nach stattfindende Implementierung als auch die Funktionsprüfung bereits eingeführter Mechanismen. Am 8. und 9. November kamen erneut Fachkundige aus Wissenschaft, Politik, staatlichen Institutionen, Krankenkassen und Wirtschaft zum 5. RSA-Fachkongress zusammen. Die derzeit problematische wirtschaftliche und politische Situation für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) schilderte Dr. Ines Weinhold, eine der Gastgeber:innen, anhand der fortschreitenden Divergenz von Beitragseinnahmen und Ausgaben. Ihr folgten hochkarätige Redebeiträge und facettenreiche Diskussionen. Insgesamt 200 Teilnehmer:innen nahmen in diesem Jahr entweder direkt vor Ort in Leipzig oder über den Livestream aktuelle Arbeitsstände des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) und des Wissenschaftlichen Beirats in den Blick. Sie erörterten den Status quo sowie Weiterentwicklungspotenziale des RSA. Dafür wurden u. a. verschiedene Verbesserungsvorschläge aus der Forschung herangezogen und über den internationalen Tellerrand geschaut. Das WIG2 Institut hat den 5. RSA-Fachkongress auch 2023 gemeinsam mit der Juniorprofessur Health Economics and Management der Universität Leipzig veranstaltet.
Hintergrund
Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) sieht sich in Zeiten des demografischen Wandels, steigender Leistungsausgaben und einer nicht zuletzt schwierigen Gesamtwirtschaftslage weiterhin großen Herausforderungen gegenüber. Ein angekündigtes GKV-Finanzierungsgesetz 2.0 soll gegenwirken. Parallel untersucht der Wissenschaftliche Beirat am Bundesamt für Soziale Sicherung den Risikostrukturausgleich (RSA) in einem Gutachten, insbesondere die zuletzt reformierten Wirkungsmechanismen. Nicht nur die GKV erwartet 2023 ein regulatorisches Update: Auch die Krankenhausreform wirft ihre Schatten bereits lang voraus - mit weitreichenden Implikationen für die Finanzierung des gesamten Gesundheitssystems.
Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesundheitsversorgung in Deutschland
Am Hauptkongresstag startete Dr. Ines Weinhold (Geschäftsführerin, WIG2 Institut) mit einem Überblick zur laufenden Reform im Abgleich mit dem Vorjahr. Sie beschrieb eine schwierige politische und wirtschaftliche Lage, in der sich die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben bereits seit 2015 immer weiter öffnet. Gleichzeitig motivierte sie, auf beiden Seiten wirksame Maßnahmen zur nachhaltigen Stabilisierung der GKV-Finanzierung gemeinsam intensiv zu diskutieren.
Ihr WIG2-Kollege, Benjamin Berndt (Fachbereichsleiter Versicherungs- und Finanzierungssysteme, WIG2 Institut), unterstich diese Tendenz mit einem Einblick in den stetig steigenden Verlauf der GKV-Kosten bevor er näher auf „Kurzfristig wirksame Finanzierungsvorschläge für die GKV“ einging. Insgesamt neun Vorschläge aus einer Expertise des WIG2 Instituts vom Mai 2023 wurden vorgestellt und anhand aktueller Zahlen weiterentwickelt – nach heutigem Stand zeigen Berechnungen für die GKV ein Finanzdefizit von 11 Mrd. Euro in 2024. 2025 ist mit einer Lücke in Höhe von 15 Mrd. Euro zu rechnen.
Längerfristige Trends für eine nachhaltige Finanzierung der GKV standen im Vortrag von Prof. Dr. Mathias Kifmann (Lehrstuhl Ökonomik der Gesundheit und der Sozialen Sicherung, Universität Hamburg) im Mittelpunkt. Eingangs betont wurde die bekannte und komplexe Problematik der demographischen Entwicklung mit langfristig weniger Nachwuchs und mehr alten Menschen. Die damit ansteigenden GKV-Ausgaben stehen entsprechend niedrigen Beitragseinnahmen durch Rentner:innen – im Vergleich zu den Beiträgen von Erwerbstätigen – gegenüber. Mit dem sog. „Baumol-Effekt“ brachte Kifmann einen weiteren, neuen Aspekt in die Diskussion ein. Dieser beschreibt, dass die Effizienz bei der Erbringung von Dienstleistungen nicht in dem Maß gesteigert werden kann wie bei der Produktion von Industriegütern. Folglich müssten moderne Gesellschaften einen immer größer werdenden Teil des Bruttoinlandprodukts für Dienstleistungen ausgeben. Mit diesem Gedanken ging die Frage einher, was an höheren Beitragssätzen für die Dienste der GKV schlimm wäre – unter Beachtung, dass die Versicherten dafür auch zusätzliche Leistungen, z. B. Lebensverlängerung und mehr Lebensqualität im Alter erhalten.
Zum Abschluss der ersten Session wurde an das Hintergrundgespräch, welches bereits am Vortag im Rahmen eines Kaminabends zur Diskussion einlud, angeknüpft. In den offenen und kontrovers geführten Gesprächsrunden kamen zahlreiche Aspekte mit Vor- und Nachteilen für eine nachhaltige GKV-Finanzierung zur Sprache.
Status quo und Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs (RSA)
Bereits während des Kaminabends am Mittwoch würdigte Dr. Sylvia Demme (Leiterin der Abteilung 3 – Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung, Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS)) den Gesundheitsfonds und den RSA als erwiesenen „Stabilitätsanker“ für die Finanzierung des Systems in der Corona-Pandemie. Zu Beginn der zweiten Session am Donnerstag gab sie einen Abriss zu aktuellen Aufgaben des BAS bei der Prüfung und Weiterentwicklung des RSA. Ein Gutachten zum Prognosepotential der bisherigen Leistungsausgaben ist noch in Arbeit. Außerdem arbeitet der RSA-Beirat an dem Sondergutachten zur Evaluation der „Manipulationsbremse“. Dem zweiten Sondergutachten zur Evaluation des Regionalfaktors widmete sich anschließend Prof. Dr. Volker Ulrich (Universität Bayreuth und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats, BAS) – ebenfalls mit Zurückhaltung, denn die drei angesprochenen Gutachten werden erst am Jahresende dem BMG zur Freigabe vorgelegt. So bat Ulrich um Geduld und beruhigte damit, im nächsten Jahr an vielen Stellen offener über die Dinge sprechen zu können. Er deutete jedoch bereits an, dass die Regionalkomponente ihre erwartete Wirkung zeigt.
Bietet der RSA die richtigen Rahmenbedingungen für einen funktionsfähigen Wettbewerb? Dieser Frage ging Prof. Dr. Jürgen Wasem (Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen) nach. Grundlage waren Untersuchungen zur Funktionsfähigkeit der Wettbewerbsordnung. Sie wurden 2022, anknüpfend an eine zehn Jahre alte Studie des Risk-Adjustment-Network (RAN) durchgeführt. Fachexpert:innen bewerteten 2022 und zehn Jahre zuvor jeweils zehn „preconditions“ für fünf Länder mit einem wettbewerblichen Krankenversicherungssystem. Insbesondere für Deutschland, aber auch für die anderen Länder Israel, Niederlande, Schweiz und Belgien zeigten die Ergebnisse zur Wettbewerbsfähigkeit im Zeitraum der zehn Jahre nur wenig Veränderung.
Aktuelle wissenschaftliche Forschungsarbeiten zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs
Wie kann der Risikostrukturausgleich Anreize für Krankenkassen zur nachhaltigen Verbesserung der Gesundheitsversorgung schaffen? Mit Investitionen in mehr Prävention und einem entsprechend angepassten RSA-Mechanismus! Damit unterbreitete Prof. Dr. Simon Reif (Leiter Forschungsgruppe „Gesundheitsmärkte und Gesundheitspolitik“, ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH Mannheim) einen „Vorschlag für einen nachhaltigen RSA“. Da Prävention nur langfristig wirkt, sprechen die krankheitsbezogenen Zuweisungen im Morbi-RSA und der kurzfristige Betrachtungszeitraum von einem Jahr derzeit grundsätzlich gegen die Förderung von präventiven Angeboten. Deshalb sollten sich die Zuweisungen aus dem RSA in Zukunft an den erwarteten Ausgaben der nächsten zehn Jahre orientieren. Damit könnte den Krankenkassen Zeit und Raum verschafft werden, um mit Weitblick einen präventionsorientierten Wettbewerb führen zu können.
JProf. Dr. Dennis Häckl (Professor Health Economics and Management, Universität Leipzig) und Florian Renker (RSA-Experte, SBK Siemens-Betriebskrankenkasse) präsentierten eine weiterentwickelte Forschungsarbeit zu „Constrained Regression im RSA“ in Kooperation mit Prof. Amelie Wuppermann (Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insb. Empirische Mikroökonomik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Auf Basis von Routinedaten der SBK wird in dem Projekt die Möglichkeit erforscht, die systematische Über- oder Unterdeckung für bestimmte Personengruppen mit Hilfe von Constrained Regression zu reduzieren – Anreize zur Risikoselektion sind so zu verhindern. Wissenschaftler:innen haben dafür anhand von SBK-Daten beispielhaft Berechnungen für die Gruppe der Erwerbsminderungsrentner:innen und für Versicherte mit anerkannter Pflegebedürftigkeit durchgeführt. Eine 100 %-Deckung bei diesen Gruppen führt bei allen anderen Versichertengruppen tendenziell zu besseren, aber dennoch heterogenen Ergebnissen. Weitere Forschungen und Berechnungen mit dieser Methode werden folgen.
Ob Pharma-Cost-Groups (PCG) angesichts der neuen, gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Verbesserung des RSA geeignet wären, diskutierte Christian Schindler (Senior Wissenschaftlicher Mitarbeiter, WIG2 Institut) in seinem Vortrag. Er verwies auf ein dafürsprechendes Gutachten von Prof. Gerd Glaeske zu den RxGroups aus dem Jahr 2005 und darauf, dass Pharmakostengruppen u. a. fester Bestandteil im RSA-System der Niederlande sind. Ein Nachteil von PCGs ist die Bevorzugung von Arzneimitteltherapien gegenüber anderen Behandlungsansätzen. Außerdem stehen Arzneimitteldaten in Deutschland nur aus dem ambulanten Bereich zur Verfügung. Die geringere Manipulationsanfälligkeit von PCG-Daten stellt gegenüber Diagnosedaten einen großen Vorteil dar. Modellrechnungen mit dem aktuellen RSA einschließlich Diagnosen und ergänzt um 50 für Deutschland adaptierte PCGs zeigen eine Verbesserung der Zielgenauigkeit des RSA. Als Ergänzung zum aktuellen RSA könnten PCGs anstelle der derzeitigen Arzneimittelvalidierung der hierarchisierten Morbiditätsgruppen (HMGs) zum Einsatz kommen.
Blick über den Tellerrand – Internationale Impulse
Nachdem Wasem bereits am Vormittag in seinem Vortrag über den nationalen Tellerrand schaute, erzählte Prof. Erik Schokkaert (Katholieke Universiteit Leuven, Belgien) der letzten Session die Geschichte des Scheiterns von Belgien bei dem Versuch, ein wettbewerbsorientiertes Krankenkassensystem einzuführen. Unter dem Titel „Improving the Performance of Health Plan Payment Systems“ referierte anschließend Prof. Thomas McGuire (Health Economics, Department of Health Care Policy, Harvard Medical School, USA) über Optionen zur Verbesserung der Zielgenauigkeit von Krankenkassentarifen durch Risikoadjustierungsmethoden. Die Rolle der privaten neben der gesetzlichen Krankenversicherung in Australien stand im Beitrag von Prof. Francesco Paolucci (Health Economics & Policy at the Faculty of Business & Law, University of Newcastle, Australia and School of Economics & Management, University of Bologna, Italy) abschließend im Fokus.
Nach zwei Tagen endete der 5. RSA-Fachkongress mit zahlreichen offenen Fragen für 2024 sowie konkreten Optimierungsvorschlägen der verschiedenen Akteure. Es stehe zwar keine weitere „große Reform“ des RSA an, jedoch könnten kleine Schritte weitere Modifikationen ermöglichen, so Ulrich. In diesem Sinne bedanken sich die Veranstalter:innen recht herzlich bei allen Kongressteilnehmer:innen und sehen dem 6. RSA-Fachkongress im nächsten Jahr mit Freude entgegen.
Veranstalter:
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