WIG2 veröffentlicht Expertise zu Manipulationspotentialen im Morbi-RSA

Die vieldiskutierte Frage nach der Manipulationsanfälligkeit der Datengrundlagen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) beschäftigt Wettbewerber und Aufsichten stärker als jemals zuvor. Doch wie verbreitet sind Diagnosemanipulationsstrategien tatsächlich? Im Auftrag der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK) hat das WIG2 Institut eine Expertise zum Diskussionstand von Manipulationsanreizen und Diagnosemanipulationen im Ausgleichssystem veröffentlicht. Benjamin Berndt, Projektleiter Gesundheitspolitik und Beratung am WIG2, und Co-Autorin Isabell Naperkowski beleuchten darin zunächst die theoretisch diskutierten Potentiale von Manipulationen im Morbi-RSA, legen den aktuellen empirischen Forschungsstand dar und bewerten Vorschläge zur Eindämmung von fehlleitenden Anreizen.

Der Morbi-RSA ist das zentrale Steuerungsinstrument im Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Nach seiner Einführung 2009 sollte er insbesondere für einen faireren Wettbewerb sorgen, da die Kassen fortan unabhängig von der Risikostruktur ihrer Versicherten sowie den damit assoziierten Kosten die gesundheitliche Versorgung gewährleisten können. Schnell wurde jedoch Kritik am neuen System laut, denn die derzeitige Ausgestaltung des Morbi-RSA lässt Raum für Einflussmöglichkeiten der Krankenkassen, um die eigenen Zuweisungen zulasten des Gesamtsystems zu erhöhen. Hierbei geht es insbesondere um bewusste Manipulationen bei der Diagnosekodierung, die für die Messung der Morbidität der Versicherten genutzt werden. Zu solchen Manipulationsstrategien zählen vor allem die direkte Beeinflussung der Leistungserbringer, beispielsweise durch tendenziöse Wirtschaftlichkeitsprüfungen, indirekte Kodieranreize durch Zusatzvergütungen für die Diagnosekodierung sowie die Unterlassung von potentiell nachteiligen Rechnungskorrekturen durch die Krankenkassen. Insbesondere der ambulante Sektor ist von solchen Manipulationsansätzen betroffen: Hier ist für einzelne gesetzliche Kassen kein direkt kostenauslösender Zusammenhang zwischen Diagnoseverschlüsselung und Leistungsvergütung gegeben, sodass die Erhöhung von Morbidität nicht direkt mit entsprechend höheren Ausgaben einhergeht.

Bereits im Mai 2017 veröffentlichte das WIG2 ein Diskussionspapier zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA, in dem Handlungsempfehlungen zur Optimierung des Risikostrukturausgleichs nach aktuellem wissenschaftlichen Kenntnisstand der Gesundheitssystemforschung vorgestellt wurden. Die nun veröffentlichte Expertise des WIG2 Instituts gibt einen Überblick über den Umfang, die Reichweite und die ordnungspolitische Einordnung von Diagnosemanipulationsstrategien im GKV-System. Sie verdeutlicht, dass sich Evidenzen für die Nutzung von direkten und indirekten Maßnahmen zur Beeinflussung von Diagnosekodierungen in zahlreichen quantitativen und qualitativen Untersuchungen finden. Theoretische Handlungspotentiale zur Optimierung von Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds werden in der Praxis regelmäßig umgesetzt, wobei auch Strategien der indirekten Beeinflussungsversuche – trotz verschärfter gesetzlicher Grundlagen – vermehrt genutzt werden.

Im Hinblick auf mögliche Reformoptionen des Morbi-RSA nimmt die Expertise eine kritische Bewertung konkreter Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats vor. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der systemimmanent vorhandene, wirtschaftliche Nutzen von Manipulationsstrategien deutlich verringert werden muss. Hierfür reicht der Ausbau externer Prüfungsinstrumente allein nicht aus. Vielmehr müssen die Anreize zur Manipulation innerhalb des Verteilungsinstruments verringert werden, etwa durch Ausschluss der besonders manipulationsanfälligen ambulanten Diagnosen aus dem Ausgleichsverfahren.

Mit der veröffentlichten Expertise im Auftrag der SBK schafft das WIG2 als unabhängiges wissenschaftliches Institut Transparenz für die Reformdebatte rund um den Morbi-RSA. Die Betrachtung von theoretischen Handlungspotentialen gemeinsam mit den empirischen Nutzungsevidenzen von Manipulationsstrategien und anschließender Evaluation von Reformansätzen bildet eine Grundlage, um Reformoptionen für den Krankenkassen-Finanzausgleich in Hinblick auf systemische Fehlanreize  besser einzuordnen.

Weitere Informationen zum Hintergrund sowie die vollständige Publikation als Download finden Sie hier.

_____________________________

Eine Übersicht aller Newsmeldungen finden Sie in unserem Archiv.